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Vergessende Unternehmen
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Andreas Brandtner:

Vergessende Unternehmen. Anmerkungen aus der Praxis des Stakeholder Managements

Es ist eine Binsenweisheit: Unternehmen müssen ihr Wissen ernsthaft managen. Klar. Kein Dissens. Und sei es ‚nur’, um Ressourcen zu sparen und etwas aus dem Wissen machen zu können, das man sich mühsam erarbeitet hat, bevor es verfällt oder die Wettbewerber auch darauf gekommen sind. 

   „Wenn Siemens wüßte, was Siemens weiß“ war lange Zeit ein beispielhafter Stoßseufzer. In einem „Anfall von Selbstironie“(1) sei dieser Satz entstanden, so beschrieb es der frühere Siemens-Chef von Pierer einmal. Heute würde ein solches Eingeständnis wohl nur noch als Armutszeugnis gewertet. Viel hat sich getan bis heute, was die Entwicklung von Wissensmanagement angeht, gerade bei innovations- und technologiegetriebenen Unternehmen.

    Doch wer für längere Zeit für oder in Unternehmen gleich welcher Branche aktiv Stakeholder Management betrieben hat, stößt auf eine bekannte Schwachstelle, die trotz aller noch so ausgefuchster IT-Systeme den begrenzenden Faktor darstellt. Natürlich: Diese Schwachstelle ist mal wieder der Mensch.

  Das Stakeholder-Management ist voller nachvollziehbarer und richtiger Ansprüche an diejenigen, die um das Management der Beziehungen mit Anspruchsgruppen aller Art bemüht sind. Es finden hier sich ausgefeilte Systematiken, um die Fülle der Stakeholder greifbar zu machen, die Richtlinien für deren systematische Einbindung sind Legion und es scheint mittlerweile fast so etwas wie Mainstream zu werden, das Paradigma des Shareholder Value durch das des Stakeholder Value zu ersetzen. Zumindest dann, wenn sozialer Mehrwert (auch) als wünschenswertes Ergebnis unterneh-merischer Tätigkeit erkannt wird.

   Unabhängig von der Frage, ob solche Ablösungen von Paradigmen per se schon einen Fortschritt bedeuten – etwas Entscheidendes gerät hier aus dem Blick. Dieses ‚etwas’ wird vergessen oder, schlimmer noch, gar nicht erst recht wahrgenommen. Wir sagen zwar ‚Stakeholder Management’ (und betonen ‚Management), wir sprechen von Management-Systemen, von Werkzeugen aller Art. Aber darüber übersehen wir tendenziell die Menschen, die hier miteinander Beziehungen pflegen sollen und ihre Rolle für die Wertschöpfung.

  Dabei geht es um Menschen beim Stakeholder Management, um reale Beziehungen zwischen echten Menschen aus Fleisch und Blut, nicht primär um Rollenmodelle. Ist das trivial? Gar selbstverständlich? Wohl nicht, sonst hätten die Altmeister der Stakeholder-Management-Theorie, Freeman und McVeal, es noch vor wenigen Jahren kaum für geboten gehalten, vor einer spürbaren Tendenz zu warnen, der „overemphasis of stakeholder roles rather than relationships between stakeholders as real people with names and faces“(2).

  Anders gesagt: Stakeholder Management ist seinem Wesen nach normativ angelegt, nicht deskriptiv. Es geht um spezifische Beziehungen zwischen, beispielsweise, Unternehmensvertretern und ihren Ansprechpartnern. Genauer noch: Es geht um die solchen Beziehungen zugrunde liegenden Haltungen. Es geht um Werte, auch um ‚Moral’. Stakeholder Management formuliert Ansprüche, Maßstäbe, die erkennbar machen, was das Ziel ist und was noch fehlt, um es zu erreichen. Für Managementfunktionen ist so etwas eigentlich selbstverständlich: Ohne Zielsetzung mit klaren Kriterien keine Messbarkeit und daher auch kein Fahrgefühl. Natürlich bemühen sich darum auch all die Stakeholder Management-Richtlinien und unter-stützenden IT-Systeme in den Unternehmen. Wer als Stakeholder-Manager auf sich hält, kann Messbares vorweisen.

  Die Frage ist: Was hat die jeweilige Organisation davon, wenn wir zusätzlich noch die Kategorie der Nachhaltigkeit einbeziehen? Stakeholder Management ist eben nicht klassische Unternehmens-kommunikation in neuer Verpackung, ebenso wenig wie ‚Stakeholder’ ein schickeres Wort für Zielgruppe ist. Ein Stakeholder hat nicht nur ein zu deckendes Bedürfnis, er hat einen Anspruch (stake), ein berechtigtes Interesse. Wie gut oder wie schlecht es gelingt, dieses Interesse zu erkennen und damit Stakeholdern die ihnen gebührende Achtung und Beachtung zu geben, ist ganz entscheidend für den langfristigen Erfolg einer Organisation.

  Setzen wir einmal voraus, was meist nicht gegeben ist, dass nämlich eine Organisation tatsächlich die ihrem Denken und Handeln zugrunde liegenden Werte und Haltungen kennt und kennen will.  Setzen wir weiter voraus, dass diese Organisation Teile ihrer Werte und Haltungen als kontraproduktiv erkennt und verändern will (obwohl die meisten Organisationen schon auf der ersten Etappe scheitern, der Selbstreflexion). Dann gilt doch: Nichts ist schwieriger zu verändern und gezielt zu ver-lernen als das eigene Wesen. Und nichts geht schneller, leichter und folgenreicher wieder verloren als Erkenntnis, die nicht ‚gesettelt’, nicht gesichert, nicht zu so etwas wie Erbmaterial einer Organisation geworden ist. Es braucht Jahre, um das längst schon einmal Erreichte wieder zu erreichen. Alles muss dann im Bedarfsfall mühsam von Grund auf neu entwickelt werden.

  Man muss auch mal vergessen können, keine Frage. Natürlich hat das Vergessen oder, wenn es ein aktiver Prozess ist, das Ver-Lernen schlechter Angewohnheiten oder überkommener Denkweisen absolut seinen Wert. Aber auch dieser Prozess will gemanagt werden, sollen die Ergebnisse nicht rein zufällig sein. Denn wann ist Lernen und Vergessen nachhaltig? Wann wird Wissen, Können, Tun und gezielte, verstandene Veränderung daraus? Wie entsteht beispielsweise aus einem wirkungsvollen Stakeholder Management ein nachhaltiger Prozess mit Resultaten, die eine Organisation tatsächlich auf eine neue Ebene heben?

  Stattdessen geht sogar das Erreichte allzu oft wieder verloren. Warum ist das so? Weil erfolgreichem Stakeholder Management Haltungen und Werte zugrunde liegen. Und die ‚hängen’ nicht an dem Papier, auf dem sie gedruckt werden, nicht in Management-Systemen, wo sie gespeichert sind. Diese Haltungen und Werte stehen und fallen mit den Menschen, die sie verkörpern, gerade auch als Beispiele für andere in der Organisation.

  Gehen diese Menschen aber einer Organisation verloren, sind auch die Haltungen perdu. Selbst die Erinnerung daran, dass ‚man’ schon einmal weiter war, ist dann verloren, gegangen mit den Menschen, die wirklich hinter dem Prozess standen, den sie (und damit die Organisation) vorangetrieben haben.

  Der Wert, der für eine Organisation in solchen Wissensträgern oder wie ich sie nennen möchte, habituellen Veränderern liegt, dieser Wert wird in aller Regel nicht erkannt. Weil Organisationen dazu neigen, sich auf einem bestimmten Niveau für ‚das reicht jetzt’ zu entscheiden, sind habituelle Veränderer schwer zu ertragen. Sie sind unbequem. Sie nerven. Sie können einfach nicht aufhören. Und sie erinnern zu stark an das nicht Eingelöste. Das macht sie zu Wanderern, weil sie es ihrerseits nicht aushalten, festzusitzen.

  Das ist gerade für das Stakeholder Management bedauerlich. Denn habituelle Veränderer können gar nicht anders als ihre Umgebung zu verändern und im positiven Sinn zu fordern. Sie sind Stakeholder Manager von Natur aus. Sie wissen oftmals intuitiv, was zu den Charakteristika von lernenden Unternehmen gehört, dass Veränderung auf der Beziehungsebene geschieht. Und Beziehungen müssen ständig neu ausgehandelt werden Daher besteht der wertvollste Teil ihrer Tätigkeit in Netzwerk-Arbeit, im Teilen von Informationen und darin, ein glaubwürdiges ‚role-modell’  für ständige Lern- und Veränderungs-bereitschaft abzugeben.

  Der Managementberater Helmut Geiselhart geht sogar so weit, nur solche Organisationen für überl-ebensfähig zu erklären, denen es gelingt, „Lernprozesse zu institu-tionalisieren, die das Unternehmen als Ganzes erfassen.“(3) Dafür wäre richtig verstandenes Stakeholder Management schon mal ein erster Schritt. Und ein zweiter erfolg-versprechender Schritt wäre es, sich aktiv mit der unternehmenseigenen Vergessens- und Verdrängungskultur zu beschäftigen. 

 

(Foto: Julia-Marleen Brandtner)



(1)  http://www.tse.de/papiere/internet%20und%20netze/ecommerce/pierer.html (Zitat vom 10. Oktober 2000; zuletzt online gesehen 02.05.2014)

(2)  John F. McVeal / R. Edward Freeman, A Names-and-Faces Approach to Stakeholder Management; in: Journal of Management Inquiry, March 2005, vol. 14, S. 57-69

(3)  Helmut Geiselhart, Das lernende Unternehmen im 21. Jahrhundert (2001), S. 165