"Je suis Chibok"

Chibok?! Wer oder was war doch gleich Chibok? Wenn wir es denn je wirklich gewusst haben: So heißt der Ort in Nigeria, aus dem vor bald einem Jahr Hunderte von Schulmädchen entführt wurden. Verantwortlich dafür zeichnet die Boko Haram, eine islamistische Terrororganisation, die vor allem im Norden des Riesenlandes Nigeria ihr Unwesen treibt.

   Kurz horchten wir alle wieder auf, als kürzlich vom Massaker in Baga berichtet wurde. Hunderte starben dabei. Aber etwa gleichzeitig fand der Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris statt. Mindestens alle westlichen Augen schauten entsetzt dorthin, verständlicherweise. Jedermann war plötzlich "Charlie". Staatschefs fanden seltene Einigkeit. Nigeria blieb am Rande des Interesses. Und nach den Schulmädchen fragt sowieso kaum noch jemand.  

   Es ist das Verdienst des nigerianischen Schriftstellers Helon Habila, vor wenigen Tagen in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf unsere moralischen und politischen Doppelstandards hingewiesen zu haben. Nicht, um Charlie gegen Chibok auszuspielen. Sondern um unseren Blick zu erweitern. Um uns davor zu warnen, vielleicht etwas zu schnell und etwas zu kollektiv in die Richtung der Woche oder des Monats zu protestieren. Und uns zu ermuntern, stattdessen unsere Augen und Ohren zu benutzen, um mehr zu erfahren, differenzierter zu urteilen - und selbst zu denken.

   Mir fällt da immer Kants kleiner, großer Aufsatz "Was ist Aufklärung?" ein. Dort steht: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen." So war das 1784. So ist es heute. (Und hier gibt es Kants Essay zum Nachlesen online).